II Die Krankheit gemeinsam bewältigen - Entscheidungs- und Verstehenshilfen
II.1. Alzheimer-Krankheit, was nun? Leben mit der Diagnose
Mit der Diagnose „Demenz“ kommen nicht nur auf den/die Betroffene/n, sondern auch auf die Angehörigen große Belastungen zu. Nicht ohne Grund wird in Verbindung mit einer Demenz oft von einer „Familienkrankheit“ gesprochen: Denn die gesamte Familie ist gefordert hinsichtlich des Verständnisses, des Einfühlungsvermögens und der pflegerischen Kompetenz. Die Angehörigen müssen nicht nur das Wissen um eine schwere, unheilbare Krankheit eines geliebten Menschen bewältigen, sondern auch Entschlüsse bezüglich zukünftiger Versorgung und Pflege des betroffenen Familienmitglieds treffen. Fachliteratur und Gespräche mit dem Arzt helfen dabei, den zukünftigen Verlauf der Krankheit und das Verhalten der Kranken besser einschätzen zu können und die notwendigen Schritte ins Auge zu fassen.
II.1.1. Die Aufklärung des/der Erkrankten
Teilt der behandelnde Arzt die Diagnose den Familienmitgliedern mit, stellt sich als Erstes die Frage, ob man den kranken Menschen über die Diagnose „Demenz“ aufklären sollte. Dagegen spricht, dass die erkrankte Person unter Umständen depressiv reagieren könnte oder bereits im Vorfeld der Untersuchungen mitgeteilt hat, dass sie das Ergebnis nicht wissen möchte. Auch wenn die betroffene Person ihre (offensichtlichen) Schwierigkeiten hartnäckig abstreitet, kann es problematisch sein, mit ihr über das Ergebnis zu sprechen.
Für die Aufklärung spricht, dass die erkrankte Person, wenn sie weiß, dass sie an einer Demenz leidet, planen kann, wie sie das Beste aus den kommenden Jahren macht. Sie hat die Möglichkeit, sich an der Organisation der Pflege aktiv zu beteiligen. Der/die Kranke kann die wichtigsten finanziellen Entscheidungen noch selbst treffen oder entscheiden, wer sich später um ihn/sie kümmern soll. Aus diesen Gründen geht man deshalb heute davon aus, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst zu entscheiden, ob er über das Untersuchungsergebnis aufgeklärt werden oder lieber darauf verzichten möchte.
Je nach persönlicher Veranlagung der erkrankten Person muss nun entschieden werden, ob ein Familienmitglied oder etwa der behandelnde Arzt die demenzkranke Person über ihre Krankheit informiert.
Nachdem die erkrankte Person erfahren hat, woran sie leidet, muss ihr dabei geholfen werden, mit den Gefühlen der Wut, der Angst und der Niedergeschlagenheit zurechtzukommen. Eine psychologische Beratung oder die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe können dabei hilfreich sein, wenn die Krankheit noch nicht zu weit fortgeschritten ist. Ist die erkrankte Person allerdings ihr Leben lang daran gewöhnt, Probleme mit sich selbst abzumachen, wird sie derartige Angebote wahrscheinlich ungern in Anspruch nehmen.
II.1.2. Reaktionen und Gefühle der Angehörigen
Die Diagnose „Demenz“ kann bei den Angehörigen eine Reihe von widersprüchlichen Gefühlen hervorbringen. Das Untersuchungsergebnis selbst löst oft einen Schock aus. Gleichzeitig fühlen sich aber viele Angehörige auch erleichtert, da sie sich so lange Sorgen gemacht haben und jetzt endlich eine Erklärung für das veränderte Verhalten des/der Patienten/in gefunden haben.
Hinzu kommen in der Zeit der Konfrontation mit der Diagnose Gefühle wie Wut auf die Krankheit, Angst oder Schuldgefühle. Manche Menschen haben an irgendeinem Punkt das Gefühl, es nicht mehr zu schaffen und die Zukunft nicht bewältigen zu können.
Es ist wichtig, sich darüber bewusst zu werden, dass alle diese Gefühle normale Reaktionen auf eine äußerst belastende Situation darstellen. Sie sollten versuchen, sie zu akzeptieren und die Emotionen – eventuell mit Hilfe einer professionellen Beratung – langsam abklingen zu lassen. Die Gefühle zu verdrängen oder langfristig an ihnen festzuhalten erschwert das Leben für Sie und möglicherweise auch für Ihre/n kranke/n Angehörige/n.
II.1.3. Der Entschluss zur Pflege
Häufig wird die Entscheidung, ein demenzkrankes Familienmitglied zu betreuen, unmerklich getroffen. Dies hängt mit dem schleichenden Charakter der Krankheit zusammen.
ngehörige, die in der Nähe des betroffenen Familienmitglieds wohnen, übernehmen nach und nach immer mehr Aufgaben und wachsen so in die Rolle der Betreuenden hinein, ohne sich dessen bewusst zu werden.
Es kann aber auch geschehen, dass die Angehörigen von einer Notsituation oder der Diagnose überrascht werden und so zu einer schnellen Entscheidung gezwungen werden.
Vorteilhaft ist in beiden Fällen, wenn der Entschluss zur Pflege nicht von der Haupt-Pflegeperson allein getroffen wird. Gemeinsames Überlegen mit allen Familienmitgliedern, wer für welche Pflege verantwortlich sein wird, hilft, die vielfältigen Aufgaben gerecht zu verteilen und fördert die Solidarität zwischen den Angehörigen. Hilfeleistungen anderer sollten möglichst konkret schriftlich fixiert werden. Dies hilft, spätere Enttäuschungen oder Missverständnisse zu vermeiden. Schon jetzt sollten ambulante Pflegedienste, die Entlastung bringen könnten, in die Überlegungen miteinbezogen werden, denn nur wenn Sie sich von Anfang an Ihre eigenen Freiräume schaffen, werden Sie immer genug Kraft und Energie für die Pflege Ihres/r Angehörigen aufbringen.
Auf welche Art und Weise und für welche Dauer auch immer die häusliche Betreuung übernommen wird – diese Entscheidung verdient Respekt und Anerkennung. Denn der Verbleib in der gewohnten Umgebung und das Zusammensein mit vertrauten Menschen ist besonders für Demenzkranke, die unter Fremdheitsgefühlen und Orientierungsstörungen leiden, eine große Hilfe.
II.2. Schlüssel zum Verstehen der Kranken
Eine Demenz geht weit über den Verlust der geistigen Fähigkeiten hinaus. Sie beeinträchtigt die Wahrnehmungen, das Verhalten und das Erleben der kranken Person – das gesamte Sein des Menschen. In der Welt, in der der/die Kranke lebt, besitzen die Dinge und die Ereignisse oft eine völlig andere Bedeutung als in der Welt der „Gesunden“. Der/die Kranke vereinsamt innerlich, da ihm/ihr keiner in seinem Erleben der Welt mehr zu folgen vermag.
Niemand weiß wirklich, wie es in einer demenzkranken Person aussieht, denn nur im Anfangsstadium der Krankheit können sich die Betroffenen selbst mitteilen. Später müssen die Angehörigen erfühlen, wie es dem/r Kranken geht, was er/sie benötigt und was ihm/ihr gut tut.
Für die betreuenden Personen heißt das, dass sie sich in die Welt der Kranken begeben müssen, um von ihnen verstanden zu werden. Um in Kontakt mit den Betroffenen zu bleiben, müssen sie sich in ihre Situation einfühlen und auf dieser Ebene mit dem/der Kranken in Verbindung treten.
Der Schlüssel für viele Verhaltensweisen der Demenzkranken liegt in ihrer Biografie verborgen. Einschneidende Erlebnisse, persönliche Ängste und Charaktereigenschaften des kranken Menschen zu kennen, heißt, ihn auch während der Krankheit besser zu durchschauen. Deshalb können nahe Angehörige die Kranken meist am besten verstehen.
II.2.1. Gestörte Merkfähigkeit und Gedächtnisabbau
Die Beeinträchtigung der Merkfähigkeit steht in der Regel am Beginn einer dementiellen Erkrankung. Den Betroffenen gelingt es nicht mehr, neue Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Der/die Kranke vergisst Termine, verlegt Gegenstände oder erinnert sich nicht an die Namen entfernter Bekannter. Die Betroffenen bemerken ihre Leistungsverluste meist schneller als alle anderen. Oft geraten sie aufgrund ihrer Gedächtnislücken völlig durcheinander und fühlen sich gedemütigt und beschämt. Sie versuchen, mit Hilfe von Merkzettelchen oder durch Zurückhaltung in Gesprächen ihre Vergesslichkeit zu vertuschen. Hobbys werden unter fadenscheinigen Gründen aufgegeben, Fehler abgestritten und Angehörige etwa beschuldigt Geld weggenommen zu haben.
Im weiteren Krankheitsverlauf sind sich die Kranken über ihre Gedächtnisprobleme zunehmend weniger bewusst, das Leiden an deren Folgen wie beispielsweise dem Verlust an Unabhängigkeit aber bleibt bestehen. Neben die Einbuße der Merkfähigkeit tritt ein fortschreitender Gedächtnisabbau. Zunehmend verschwinden auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses. Dies hat zur Folge, dass das logische Denken beeinträchtigt wird, erworbene Fähigkeiten verloren gehen und das Sprachvermögen abnimmt. Am Ende verliert der Kranke das Wissen darüber, wer er war“ und „wer er ist“.
Fehlende Erinnerungen sind häufig der Schlüssel zu unverständlichem Verhalten des/der Kranken: Wer sich nicht mehr an die Person erinnert, die einem gerade aus den Kleidern helfen möchte, wird diesen Menschen als Zumutung für seine Intimsphäre empfinden – und ihn unter Umständen beschimpfen oder sich weigern, die Kleider abzulegen. Versetzt man sich in die Welt der Kranken, ist dies durchaus eine „vernünftige“ Reaktion.
Durch praktische Hilfestellung der Angehörigen können die negativen Folgen der Gedächtnisstörungen für die Patient(inn)en vermindert werden.
Fehlende Erinnerungen ziehen häufig „merkwürdige“ Verhaltensweisen nach sich
II.2.2. Verlust von Urteilsfähigkeit und Denkvermögen
Wenn im Gedächtnis immer mehr Lücken entstehen, leidet auch das Denkvermögen. Für Demenzkranke bedeutet dies, dass sie immer weniger in der Lage sind, mit Hilfe ihres Verstands die auf sie einströmenden Informationen und Eindrücke zu ordnen oder zu bewerten. Deshalb fällt es den kranken Personen zunehmend schwer, Entscheidungen zu treffen oder Probleme durch logische Schlussfolgerungen zu lösen. Verbrennt sich ein Demenzkranker beispielsweise die Zunge, gelingt der Rückschluss, dass der Tee zu heiß ist, unter Umständen nicht mehr. Deshalb kann es sein, dass er trotz der Schmerzen weiter trinkt. Erklärungen, die auf Logik beruhen, versteht der kranke Mensch nicht, genauso wenig kann er Fragen nach Gründen für sein Verhalten oder seine Gefühlsäußerungen beantworten. Deshalb macht es wenig Sinn sich mit Demenzkranken auf Streitereien oder Diskussionen einzulassen und dabei zu versuchen, den/die Kranken durch logische Argumente zu überzeugen. Sucht ein 80-jähriger Patient seine Mutter, bewirkt das Argument, sie müsse schon über 100 Jahre alt sein, nichts, wenn der Patient sich nicht mehr an sein eigenes Alter erinnert.
Oft leidet die demenzkranke Person unter den Tatsachen, die sie nicht mehr sinnvoll entschlüsseln kann. Kommen Besucher vorbei, taucht die Befürchtung auf, sie könnten dem Kranken die vertraute Bezugsperson wegnehmen, raschelndes Laub lässt gefährliche Einbrecher vermuten, ein knackendes Heizungsrohr wird zu Gewehrschüssen. Der/die Kranke gerät so zunehmend in eine Situation, in der er/sie die Wirklichkeit nicht mehr begreift, einfache Gegenstände wie eine Zahnbürste oder eine Gabel verlieren ihren Sinn, unkomplizierte Tätigkeiten im Alltag können nicht mehr ausgeführt werden.
Die Fehldeutung alltäglicher Situationen verursachen große Ängste bei den Betroffenen
II.2.3. Wechselwirkung von Denken und Fühlen
Der demenzkranke Mensch büßt zwar sein Erinnerungs- und Denkvermögen ein, seine Erlebnisfähigkeit und sein Gefühlsleben aber bleiben bis zu seinem Tod erhalten. Die Kranken empfinden die Trauer über ihre Verluste an Kompetenzen und Unabhängigkeit umso stärker, da sie nicht dazu fähig sind, mit dem Verstand regulierend auf ihre Gefühle einzuwirken. Versagt ein gesunder Mensch in einer bestimmten Situation, kann er sich darauf besinnen, dass dieses Versagen eine Ausnahme darstellt oder dass er gestern eine ähnliche Situation erfolgreich bewältigt hat. Aufgrund dieser Überlegungen schöpft er neue Hoffnung und bewältigt seine Krise. Hoffnung bedeutet, sich nach negativen Erlebnissen an gute Erfahrungen zu erinnern und zu wissen, dass es wieder „bessere Zeiten“ geben wird. Demenzkranke sind insofern „Hoffnungslos“ als dass dieser Verarbeitungsmechanismus bei ihnen nicht mehr vorhanden ist und sie so ihren negativen Gefühlen „ohne Gegenwehr“ ausgeliefert sind.
Die häufigen Misserfolgserlebnisse von Demenzkranken führen zu Angst vor der eigenen Leistungsunfähigkeit. Die Kranken werden innerlich einsam, da niemand ihnen in ihr „Labyrinth der Demenz“ zu folgen vermag. Verlustängste prägen das Leben der Kranken in besonderem Maße, da sich ihr Leben als eine Reihe von Verlustsituationen darstellt. Das Zurechtfinden auch in vertrauter Umgebung wird immer schwieriger, Autofahren ist nicht mehr möglich, Telefonieren wird zur Qual, Schlüssel werden verlegt, Bargeld nicht mehr gefunden.
Das Sehnen der Kranken richtet sich in dieser Situation darauf, nicht noch mehr Defizite und Verluste hinnehmen zu müssen. Aus diesem Grund ziehen sie sich immer mehr von Aktivitäten zurück und klammern sich an die vertraute Person, aus Angst, diese auch noch zu verlieren.
Für die Betreuung Demenzkranker ist es wichtig, den Zusammenhang von Denken und Fühlen zu erkennen und negative Gefühle wenn möglich zu vermeiden.
II.3. Spezifische Verhaltensweisen der Kranken
Zu dem Krankheitsbild der Demenz gehören verschiedene typische Verhaltens- und Handlungsweisen der Betroffenen, mit denen sich die meisten Angehörigen zu irgendeinem Zeitpunkt auseinandersetzen müssen. Die Ursachen dieses Verhaltens liegen zum Großteil in den in Punkt II.2. beschriebenen Phänomenen wie dem Verlust von Gedächtnis und Erinnerungsvermögen und der Unfähigkeit, logische Verknüpfungen herstellen zu können.
II.3.1. Wiederholen der immer gleichen Fragen und Handlungen
Viele Demenzkranke stellen immer wieder dieselbe Frage oder wiederholen die gleichen Sätze oder Handlungen. Das kann für die betreuende Person ausgesprochen anstrengend und nervtötend sein. Oft gewinnt man den Eindruck, dass der/die Kranke einen mit Absicht ärgern will. Dies ist aber normalerweise nicht der Fall. Er/sie hat wahrscheinlich einfach vergessen, dass die Frage schon einmal gestellt worden ist. Die ständige Vergewisserung hilft der kranken Person, mit ihren Zweifeln umzugehen.
Oft ist wiederholtes Fragen auch ein Zeichen von Angst oder Unsicherheit. Fragt ein Patient beispielsweise immer wieder nach Andrea, die sich gerade im Urlaub befindet, kann es sein, dass er sich darüber Sorgen macht, dass sie ihn längere Zeit nicht besucht hat.
Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen dafür, dass er sich einsam fühlt und gerne Gesellschaft hätte. In diesem Fall hilft es nichts, wenn Sie immer wieder versichern: „Andrea ist im Urlaub.“ Aber vielleicht hört Ihr Angehöriger auf, diese Frage zu stellen, wenn Sie sich zu ihm setzen und ihm versichern, dass Sie für ihn da sind, bis Andrea wieder kommt.
Manchmal neigt ein Demenzpatient auch dazu, die gleiche Handlung immer wieder durchzuführen wie z.B. Regale abstauben, Schuhe putzen usw. Dies ist kein Grund zur Beunruhigung, sondern ein Zeichen dafür, dass es ihrem/r Angehörigen gelungen ist, eine Beschäftigung zu finden, die ihm/ihr gut gelingt und gefällt.
II.3.2. Nächtliche Unruhe und Wandern
Im mittleren Stadium der Krankheit zeigen viele Demenzkranke einen ausgeprägten Bewegungsdrang gepaart mit starker Unruhe. Mögliche Ursachen sind innere Anspannung oder Nervosität, die oftmals durch krankhafte Veränderungen im Gehirn hervorgerufen werden. Hinzu kommt, dass das Gehen von besonderer Bedeutung für Demenzkranke ist.
Es gehört zu den wenigen Tätigkeiten, die die Kranken noch selbstständig ausführen können. Gehen stärkt ihr Selbstwert- und Körpergefühl, gibt ihnen eine gewisse Entscheidungsfreiheit und wirkt sich positiv auf ihre Stimmung aus. Oft drückt sich im „Wandern“ auch die Suche des/der Erkrankten nach dem, was er/sie verloren hat, aus: z.B. nach einem Gegenstand, nach Menschen aus der Vergangenheit oder allgemein nach Sicherheit und Geborgenheit.
Schlafstörungen der Patient(inn)en und ihre zunehmende Unfähigkeit, Tag und Nacht zu unterscheiden, führen häufig dazu, dass sich „Gehen“ und „Wandern“ auch auf die Nacht ausdehnen. Das ständige Hin- und Herlaufen kann die Nerven der betreuenden Personen stark strapazieren. Wandern die Erkrankten auch nachts umher, wird die Gefahr heraufbeschworen, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden der gesamten Familie leiden. Verschiedene Maßnahmen können Ihnen dabei helfen, mit „Wandern“ und Schlafstörungen der Patient(inn)en besser zu Recht zu kommen.
II.3.3. Wirklichkeitsfremde Überzeugungen und Sinnestäuschungen
Die eingeschränkte Fähigkeit der Kranken, Situationen und Wahrnehmungen richtig zu deuten, führt häufig zu Erklärungsversuchen, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.
So beschuldigen sie z.B. ihre Angehörigen, Geld gestohlen zu haben oder halten Verwandte für verkleidete Fremde. Sie erkennen den „alten Menschen“ im Spiegel nicht und fürchten sich vor Bildmotiven oder Teppichmustern.
Die Abweichungen zwischen der erlebten Welt der Kranken und der Realitätssicht der Angehörigen führen leicht zu Konflikten im Betreuungsalltag. Es kann ein äußerst schockierendes Erlebnis sein, vom Vater oder von der Ehefrau als Dieb/in bezeichnet zu werden. Deshalb erleichtert es den Umgang miteinander, wenn sich die betreuenden Personen vor Augen führen, dass die „Beschuldigungen“ der Kranken keine bösartigen Konstruktionen darstellen, sondern lediglich ein Versuch sind, „Löcher“ in der Erinnerung zu „stopfen“. Oft verstecken kranke Personen „wichtige“ Gegenstände wie Schlüssel, Geld, aber auch Lebensmittel aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus. Finden sie diese Gegenstände dann nicht wieder, erscheint ihnen „Diebstahl“ die einzig angemessene Erklärung zu sein. Meist genügt es, den Gegenstand wieder aufzuspüren, um den/die Patient/in zu beruhigen.
Mit fortschreitender Krankheit wird die Lebenswelt der Betroffenen weitgehend von den noch vorhandenen Erinnerungen geprägt. Sie leben mit den Vorstellungsbildern einer bestimmten Lebensphase und verhalten sich entsprechend: Sie machen sich auf den Weg zur Arbeit oder suchen ihre Eltern. Oft gibt das Leben in der Vergangenheit den Kranken in einer beängstigenden Welt Halt und Sicherheit. Erwarten die Angehörigen von den Kranken eine Berichtigung ihrer Überzeugung, wird dies als Bedrohung erlebt. Deshalb ist es meist sinnvoller, den Kranken auf der Gefühlsebene zu begegnen, anstatt den Wahrheitsgehalt ihrer Äußerungen anzuzweifeln. So kann man beispielsweise den/die Kranke/n ermuntern, über seine/ihre Arbeit oder die Eltern zu erzählen.
II.3.4. Aggressives Verhalten
Demenzkranke verhalten sich manchmal verbal oder körperlich aggressiv. Sie schreien und beschimpfen die betreuenden Personen oder – was allerdings seltener vorkommt – schlagen oder werfen mit Gegenständen.
Auslöser für Wutausbrüche und aggressives Verhalten sind weniger die krankheitsbedingten Veränderungen im Gehirn als vielmehr die erschwerten Lebensbedingungen und die daraus resultierende Angst der Betroffenen. Die Kranken leben in einer Welt, die sich für sie dauernd verändert. Sie sind deshalb ständig beunruhigt, weil sie nicht wissen, was sie als nächstes erwartet. Ein plötzlicher lauter Satz oder eine Situation, die den/die Erkrankte/n überfordert, kann dazu führen, dass er/sie aggressiv reagiert. Manchmal missversteht die kranke Person auch die Absicht anderer Menschen oder die gesamte Situation: Sie fühlt sich z.B. bedroht, weil ein scheinbar „Fremder“ ihr die Hose ausziehen möchte oder will ihren Pyjama nicht anziehen, da sie denkt, dass sie gerade erst aufgestanden sei.
Gerade wenn sich Patienten mit sanftmütigem Charakter plötzlich aggressiv verhalten, ist dies für die Angehörigen ein Schock. In solchen Momenten kann es hilfreich sein, daran zu denken, dass das Verhalten durch die Krankheit verursacht wird und nicht durch die Person selbst. Um Aggressivität vorzubeugen ist es wichtig, die Anlässe für dieses Verhalten herauszufinden und – wenn möglich – zu beseitigen. Gelingt dies nicht, kann Ablenkung eine sinnvolle Strategie sein.
Wenn die Kranken z.B. bei der Körperpflege aggressiv reagieren, kann es helfen, in diesen Situationen mit ihnen gemeinsam ihre Lieblingslieder zu singen. Derartig abgelenkt vergessen sie oft ihren Widerwillen.
II.4. Der Umgang mit den kranken Angehörigen und sich selbst
Da die Veränderungen im Gehirn der Kranken nicht heilbar sind, ist es wichtig, den kranken Menschen so anzunehmen, wie er ist und das zu akzeptieren, was er wirklich leisten kann.
Eine angenehme und stressfreie Atmosphäre, die den Kranken Halt und Sicherheit gibt, steigert ihr Wohlbefinden entscheidend. Ihre „Unflexibilität“ fordert von den Betreuenden täglich neue Ideen und Kreativität – eine anstrengende Aufgabe, bei der die pflegenden Personen mit ihren Kräften gut haushalten müssen, um selbst gesund und leistungsfähig zu bleiben.
II.4.1. Zeit lassen und Verlässlichkeit schaffen
Wechselhafte Situationen und Neuerungen belasten die Kranken stark, da ihr Kurzzeitgedächtnis nicht mehr dazu in der Lage ist, neue Informationen aufzunehmen. Neuanschaffungen oder plötzliche Umstellungen im Tagesablauf werden so nicht als Abwechslung, sondern als beängstigende Verunsicherung empfunden, die Sorgen und Ängste bei den Betroffenen verursachen. Änderungen bei den gewohnten Handlungsabläufen führen häufig dazu, dass der/die Kranke die entsprechende Tätigkeit (z.B. Baden, Ankleiden oder eine Mahlzeit) komplett verweigert.
Feste Regeln und Gewohnheiten dagegen geben den Kranken ein Gefühl von Sicherheit. Das Gleichmaß bei den gewohnten Abläufen mag den Angehörigen zwar langweilig vorkommen, entstresst aber die Kranken und erspart den pflegenden Angehörigen eine Menge an Erklärungen, Überredungskünsten und schwierige Situationen. Wenn es nicht unbedingt schnell gehen muss, lassen Sie den Kranken genügend Zeit, sich in ihrem eigenen Rhythmus auszudrücken oder zu handeln. Beenden Sie zu häufig die Sätze des/der Kranken oder führen Sie seine/ihre Handlungen zu oft zu Ende, entmutigen Sie die kranke Person. Dies führt sehr wahrscheinlich dazu, dass sie sich in Passivität zurückzieht und sich kränker fühlt, als sie ist. Seien Sie bereit dazu, Antworten oder Erklärungen für Ihre/n Angehörige/n noch einmal zu wiederholen oder mehrmals zu zeigen, was Sie von ihm/ihr erwarten. Ungeduld führt zu Verunsicherungen des/der Kranken und kann seine/ihre Fähigkeiten unnötig einschränken.
II.4.2. Den Kranken helfen, ihr Lebensniveau zu halten
Pflegende Angehörige, die ihr Augenmerk vor allem auf die „Mängel“ und „Fehlleistungen“ der zu Betreuenden richten, übersehen oft noch Vorhandenes und lassen damit Chancen, die Lebensqualität der Kranken entscheidend zu verbessern, ungenutzt verstreichen.
Wesentlich fruchtbarer und dem Wohlbefinden der Kranken zuträglicher ist es, sich an den verbliebenen Fähigkeiten der Kranken zu orientieren. Was kann der/die Kranke noch? Wie kann ich ihn/sie dabei am besten unterstützen? Was macht ihm/ihr am meisten Spaß? Dies alles sind Fragen, die sich an noch vorhandenen „Ressourcen“ der Kranken ausrichten und die dazu beitragen, sich mit ihnen an den Dingen zu freuen, die sie noch können.
Besonders bei fortgeschrittener Krankheit können Betroffene dazu neigen, sich in Untätigkeit zu flüchten, sobald sie Situationen als zu stressig empfinden.
Auch wenn Ruhepausen notwendig sind, sollte man keinesfalls akzeptieren, dass sich die kranke Person langfristig ins Bett zurückzieht. Versuchen Sie in einem solchen Fall, Ihre/n Angehörige/n durch Angebote attraktiver Tätigkeiten wieder zu aktivieren. Musik oder einfache Hilfeleistungen im Haushalt sind in einem solchen Fall beliebte Anknüpfungspunkte.
Als ungeeignet zur Unterstützung noch vorhandener Fähigkeiten haben sich reine Gedächtnisübungen in Form von Abfragen von Daten, Namen oder Fakten erwiesen. Sie wirken sich negativ auf das Empfinden der Kranken aus, da es sie überfordert und ihnen immer wieder ihre Mängel vor Augen führt. Besser werden Wahrnehmungs-Übungen wie das speziell für Demenzkranke entwickelte Geräusche-Memorie angenommen: Geräuschen wie Fahrradklingeln, Kirchengeläute o.Ä., auf Tonband abgespielt, werden dabei die entsprechende Bildchen geordnet. Sinnvoll sind derartige Beschäftigungen nur, solange sie den Kranken Spaß machen und ausreichend Erfolge ermöglichen.
II.4.3. Für den eigenen Ausgleich sorgen
Die Betreuung eines dementiell erkrankten Familienmitglieds ist außerordentlich schwer und kann viele Jahre dauern. Es ist ein Irrtum zu glauben, ein einzelner Mensch könne die für die Betreuung erforderliche seelische und körperliche Kraft jederzeit und unbegrenzt aufbringen. Deshalb ist es dringend nötig, den Selbstauferlegten Leistungsdruck abzubauen: Kein Mensch kann einen anderen 24 Stunden lang betreuen, versorgen und beobachten, ohne sich selbst dabei völlig zu überlasten. Das Missachten der eigenen Belastungsgrenze schadet aber nicht nur der pflegenden Person, sondern auch dem/der Kranken. Denn Folgen der Überlastung wie Ungeduld oder Reizbarkeit sind häufig die Ursache für Konflikte im Betreuungsalltag. Ein Verteilen der Pflege auf mehrere Schultern, gleichgültig ob auf Familienangehörige oder professionelle Helfer/innen, ist oft der Grund dafür, dass die häusliche Betreuung über viele Jahre hinweg aufrecht gehalten werden kann.
Für die Hauptpflege-Person ist es wichtig, private Bekanntschaften und Hobbys weiterzuführen. Schaffen Sie sich von Anfang an feste Freiräume, die ganz Ihnen gehören und gönnen Sie sich jeden Tag etwas, auf das Sie sich freuen können wie z.B. ungestört Musik hören, einen Spaziergang machen, eine Zeitschrift lesen oder im Garten zu arbeiten.
Vermeiden Sie unbedingt ein schlechtes Gewissen, wenn Sie sich Zeit für sich nehmen. Sie „schieben“ den/die Kranke/n nicht ab, sondern nehmen sich nur notwendige Pausen.
Von der Kraft und der guten Laune, die Sie an einem freien Tag „getankt“ haben, profitiert auch Ihr krankes Familienmitglied!
Oft suchen pflegende Angehörige erst nach Entlastungsmöglichkeiten, wenn das Wasser ihnen „bis zum Hals“ steht. Dann erweist sich die Suche aber als zusätzlicher Stressfaktor, der kaum noch verkraftet werden kann. Kümmern Sie sich deshalb um Hilfs- und Entlastungsmöglichkeiten, solange noch Luft dazu da ist. Je früher der/die Kranke sich daran gewöhnt, von mehreren Personen Hilfe zu erhalten, desto leichter nimmt er/sie sie auch an.